Mitleid vs. mitfühlen
Worin liegt der Unterschied zwischen Mitleid und mitfühlen? Besonders für die Betroffenen, die bemitleidet werden … oder mit denen man mitfühlt? Wer entscheidet darüber, dass der andere Leid empfindet? Kann ich mit absoluter Sicherheit wissen, dass der andere Leid empfindet oder interpretiere ich da nicht etwas hinein, was der andere vielleicht gar nicht selbst so sieht? Ist Mitleid also überhaupt angebracht?
Inhaltsverzeichnis über Mitleid vs. mitfühlen
Perspektive einer Betroffenen – Ich
Mitleid empfinde ich als arrogant und herablassend. Das liegt daran, dass Mitleid bedeutet, jemand anderes bewertet mein Leben und urteilt, dass mit meinem Leben etwas nicht stimmt, was es zu bemitleiden gibt.
Dabei ist es MEIN Leben. Da gibt es kein Urteil darüber, weder von mir noch von anderen. Es gibt kein „richtiges“ Leben auf diesem Planeten. Jeder führt sein eigenes Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen, mit seinen körperlichen und emotionalen Schmerzen.
Niemand hat das Recht darüber zu urteilen, wie ein Leben auszusehen hat. Und deswegen empfinde ich es als unangenehm, wenn Leute mir gegenüber Mitleid zeigen: Teilnahmsvoll meine Hand nehmen und mir sagen, wie stark ich bin.
Mitfühlen ist toll
Ich weiß, dass es nicht die Absicht der Leute ist, arrogant und herablassend zu sein. Eigentlich möchten sie mitfühlen. Aber hinein zu interpretieren, dass jemand leidet, nur weil er Schmerzen hat oder 20 „Krankheiten“, ist nicht mitfühlen.
Mitfühlen bedeutet, ich spüre in den anderen hinein
Mitfühlen bedeutet, ich spüre in den anderen hinein und sehe, wie diese Person mit der Situation umgeht. Nicht, ich interpretiere, dass diese Person leiden muss, weil ich in solch einer Situation leiden würde.
Ihr könnt nicht wissen, wie ihr in solch einer Situation empfinden würdet, solange ihr nicht selbst in dieser Situation seid.
Alltagsbeispiel für Mitleid
Ihr erfahrt durch gemeinsame Freunde, dass eine Bekannte von euch ihren hochrangigen, gut bezahlten Job in einer großen Firma aufgrund von Stellenkürzungen verloren hat.
Als ihr sie das nächste Mal trefft, nehmt ihr ganz mitfühlend ihre Hand und sagt: „Lisa, ich hab das mit deinem Job gehört. Das tut mir ja so leid! [Mitleid!] Gerade jetzt, da ihr den Kredit für euer neues Haus abbezahlen müsst und grade euer zweites Kind auf die Welt kam!“.
Die Bekannte schaut euch ganz irritiert an: „Da gibt es nichts zu bemitleiden! Ich bin sooo froh, dass ich da nicht mehr arbeiten muss! Ich hatte einen narzisstischen Chef, der hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Und durch die Kündigung von Seiten der Firma hab ich sogar noch ne Abfindung ausbezahlt bekommen!“.
Analyse Mitleid-Beispiel
Lisa ist erleichtert darüber, dass sie diesen Job nicht mehr machen muss.
Statt jedoch offen in das Gespräch hinein zu gehen und zu fühlen, was Lisa eigentlich selbst über diese Situation empfindet, geht ihr voreingenommen in das Gespräch mit dem Gedanken: Oh Gott, Lisa wird am Boden zerstört sein, hat bestimmt Angst, leidet und ich sichere ihr meine Unterstützung zu, indem ich ihr mitteile, wie leid mir das tut.
Selbst wenn Lisa unglücklich mit der Situation wäre, bräuchte sie euer Mitleid nicht.
Sie mag Unterstützung brauchen, emotionale, finanzielle, materielle Unterstützung. Aber mit eurem Mitleid packt ihr noch ein schweres Gefühlspäckchen mit hinzu.
Mitleid projizieren
Wenn ihr Leid auf andere projiziert, schafft ihr ein emotionales Gefälle zwischen euch, dem Interpretierer, und dem anderen, dem Leidenden.
Zwischen den Zeilen sagt ihr: „Ich, aus meiner gehobenen (gesünderen, reicheren, schlaueren, machtvolleren…) Position sehe auf dich hinab und erkenne aus dieser Metaperspektive, dass du kein gutes (gesundes, reiches, unabhängiges….) Leben führen kannst, so wie du lebst. Dein Leben müsste anders sein! Und durch mein Mitleid tue ich so, als ob ich mitfühlen würde.“
Dabei agiert der Mitleider aus einer egozentrischen Perspektive ohne in Betracht zu ziehen, dass die andere Person es anders empfinden könnte.
Mitfühlen ist ein empathischer Akt, in dem ich anerkenne, dass meine Perspektive nicht die einzige Wahrheit ist, sondern dass jeder seine eigene Wahrheit im Bezug auf sein eigenes Leben hat.
Leiden heißt, das abzulehnen, was sich gerade in diesem Moment präsentiert. Diese Ablehnung führt zu Leid.
Müsst ihr Mitleid mit mir haben oder könnt ihr mit mir mitfühlen?
Es gibt Momente in meinem Leben, in denen ich Leid empfinde und das sind die Momente, in denen ich mein Leben, so wie es ist, ablehne. Ablehnung führt zu Leid.
Aber selbst in diesen Momenten brauche ich nicht das Leid von anderen.
Das ist euer Leid, bitte behaltet es bei euch und stülpt es mir nicht über. Dieses Kostüm ist mir einfach zu eng.
Ich würde mich freuen, wenn ihr mit mir mitfühlt. Aber das ist kein mentaler Akt, sondern ein Akt aus einem tiefen Gefühl heraus. Dann spürt ihr einfach, wie es mir geht.
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