Bin ich normal?
Bin ich, als psychisch kranker Mensch, „normal“? Was genau bedeutet es überhaupt normal zu sein? Ist Krankheit normal? Gibt es überhaupt eine Norm, die bestimmt, wie das Leben jedes Einzelnen zu verlaufen hat? Eine Norm, die definiert, wie ich zu sein habe, wie ich zu empfinden habe, wie ich leben soll? Oder liegt eine Freiheit im Wissen, dass es kein „Normal-Sein“ geben kann, weil wir alle Individuen sind?
Inhaltsverzeichnis über Normal-Sein
Mein normaler Ursprung
Ich wurde in eine dysfunktionale Familie hinein geboren. Meine ersten Lebensjahre drehten sich um mein emotionales und physisches Überleben, ohne dass ich mir darüber bewusst war.
Jetzt bin ich 40 Jahre alt, musste mich durch unzählige Panikattacken und Traumaerlebnisse arbeiten und habe bestimmte Verhaltens- und Denkmuster entwickelt, die mich zu der machen, die ich heute bin. Mein Leben hat seine eigenen Herausforderungen: Ich empfinde Emotionen sehr stark, nicht nur meine eigenen, sondern öfter auch die Emotionen von anderen. Mein Körper als auch meine Psyche sind durch mein Leben gezeichnet. Die Psychiatrie und die Psychotherapie pathologisieren diese Verhaltensweisen, weil sie nicht der Norm entsprechen.
Ich bin nicht normal, sagen mir die Diagnosen.
Stattdessen „leide“ ich an verschiedenen Krankheiten (Multiple Sklerose, Depression, Angststörung, und, und, und) und sogar meine Persönlichkeit gilt als gestört, als nicht normal. Dabei bedeutet „Störung“ im psychiatrischen Sinne Leidenszustände, die die lebenswichtige Funktionsfähigkeit des Betroffenen nicht einschränken. Das bedeutet, dass der oder die Betroffenen leiden muss (was genau ist Leid?), aber das eigene Überleben nicht akut gefährdet ist (warum gilt Borderline als Störung?).
Aus medizinischer Sicht bin ich also nicht normal und ich bin gestört. Soziologisch kann ich nicht an den „normalen“ sozialen Konventionen teilnehmen, wie arbeiten gehen oder einfach das machen, was die Gesellschaft glaubt, das man macht, wenn man normal ist.
Was genau bedeutet „Ich bin normal“?
Das Problem mit den Bezeichnungen „normal„, „Krankheit“ und „Störung“ ist die abstempelnde Struktur dahinter. Voraussetzung für den Gedanken, dass jemand „normal“ ist, ist der Glaube an einen Norm-Zustand, den jedes Individuum in dieser Gesellschaft hat.
Aber was genau ist die Norm? Wann genau ist jemand gesund? Alles, was ich im Leben erlebt habe, alles, womit ich mich im diesem Moment auseinandersetze, hat mich geformt, mich geprägt. Ja, es weicht von der Norm ab, weil ich ein Individuum bin. So wie alle Individuen ihr eigenes Erleben haben, ihre eigenen Prägungen, ihre „Krankheiten“ und „Störungen“.
Krankheit muss abgelehnt werden
Sobald ich etwas als Krankheit definiere, beginnt der Wunsch im Individuum etwas dagegen zu tun. Man muss geheilt werden. Die Krankheit muss weg, weil das nicht richtig ist, dass ich krank bin. Wer bestimmt darüber, dass Krankheit nicht richtig ist? Es ist eine künstlich festgelegte Norm der Gesellschaft, was als „normal“ gilt und was als krank.
Meine ganzen „Krankheiten“ und „Störungen“ sind ein Teil von mir. Wieso sollte ich daran etwas ändern wollen? Sie dürfen hier sein, weil das mein Leben ausmacht.
Wieso glaubt die Gesellschaft mir sagen zu können, wie mein Leben auszusehen hat?
In Deutschland wäre „normal“ wohl:
- In eine liebevolle, beschützende, anregende, ausgeglichene Familie hineingeboren werden mit den passenden Genen
- Ein gesundes Maß an Erregung und Entspannung
- Unterstützende Freunde, Lehrer, Chefs, Partner und Partnerinnen
- Körperliche Vitalität, geistiges Wohlergehen, Ausgeglichenheit
- Volle Funktionalität in allen Bereichen, d.h. körperlich, emotional, mental, sozial
- Ein sozial angemessenes Maß an Intelligenz
- Ein anregendes soziales Umfeld
- Arbeitsfähigkeit
- In einem männlichen oder weiblichen Körper und das dazu passende Geschlechterempfinden zu leben
- Weiße Hautfarbe
Und noch einiges mehr…
Wie viele normale Menschen gibt es wohl?
Wenn ich nun eine Bilanz ziehen, die alle Menschen, die ich jemals in meinem Leben getroffen habe, mit einbezieht, muss ich erkennen….dass keiner von denen „normal“ ist. Keiner.
Was ist dieser Norm-Zustand, den alle versuchen zu erreichen, den es aber niemals geben wird, weil wir alle Individuen sind? Wir alle haben unsere eigene Geschichte, unsere Gene, unsere Konditionierungen, unsere Erfahrungen. Und all das prägt uns und macht uns zu den Menschen, die wir sind.
Wenn ich also den Diagnosen der Psychiatrie Glauben schenke, werde ich für den Rest meines Lebens gegen mich selbst kämpfen. Gegen all das, was mich ausmacht. Weil das nicht „normal“ ist.
Ein Leben lang einen Kampf gegen sich selbst führen, weil man nicht normal ist.
Ist das nicht genau das, was die meisten Menschen in unserer Gesellschaft tun? Gegen sich selbst kämpfen…. Weil sie glauben, zu dick, zu dünn, zu schlau, zu dumm, zu krank, zu gestört, zu unsozial, zu sozial, zu arm, zu reich, zu schnell, zu langsam, etc. zu sein? Weil es eine nicht zu erreichende Norm gibt, die keiner in unserer Gesellschaft erfüllt?
Der Kampf über die Frage, ob ich normal bin, führt zu Leid
Genau dieser Kampf führt zu dem Gefühl des Leids. „Leid“ ist ein subjektives Empfinden, auf das man Einfluss nehmen kann. Es ist eine Bewertung der aktuellen Erfahrung als „negativ“. Man lehnt eine aktuelle Situation ab und kämpft dagegen an. Damit einher gehen Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, des Nichts-Daran-Ändern-Könnens. Als Resultat, quasi als Summe dieser ganzen Gefühlswelle, erfolgt das Empfinden von Leid.
In dem Moment, in dem man in der Lage ist, die Situation so anzunehmen wie sie ist, verringert sich auch das Gefühl des Leids. Indem man glaubt, es gäbe einen Norm-Zustand, ein „Normal-Sein“, dem man entgegen streben muss, bleibt man gefangen im eigenen Leid. Unterm Strich könnte man sagen, dass die Diagnosen der Medizin erst Leid erschaffen, weil sie dem oder der Betroffenen vermitteln, es müsste anders sein, es gäbe einen Norm-Zustand, den unsere Gesellschaft „Gesundheit“ nennt.
By the way, die „gestörtesten“ Menschen, die ich je getroffen habe, waren Psychotherapeuten und in meinem Psychologie-Studium habe ich einige Anwärter kennen gelernt. Und nur, weil ihr „Helfersyndrom“ als gesellschaftlich angemessen gilt und sie gelernt haben, wie sie ihre dysfunktionalen Anteile unterdrücken, macht es sie nicht normaler oder gestörter als andere.
Bin ich also normal? Oder bin ich einfach ICH.
Ich bin ich selbst, mit allen Schmerzen, emotionalen Aufs und Abs, „guten“ und „schlechten“ Momenten. So wie jeder andere Mensch auch.
Zu erkennen, dass niemand das Recht hat, mein „Normal-Sein“ zu definieren und mir zu erzählen, wie mein Leben eigentlich sein sollte, birgt eine große Freiheit.
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