Ist mein Perfektionismus angeboren?

Ich dachte immer, mein Perfektionismus wäre angeboren. Das ist halt so, nicht wahr? Inzwischen weiß ich, dass er das nicht ist, er ist konditioniert, also erlernt. Und dieses Wissen verursacht jede Menge Wut in mir. Vor allem Wut auf mich selbst, weil ich diesem Gefühl glaube, das mir einflüstert, ich müsste Dinge perfekt machen. Ganz ohne Nachzudenken mache ich die Sachen perfekt, was mich enorm viel Energie kostet. Aber muss ich diesem Gefühl wirklich glauben?

Perfektionismus: Angeboren oder erlernt?

Inhaltsverzeichnis über „Ist mein Perfektionismus angeboren?“

Mein angeborener Perfektionismus

Bum, bum, bum … der 3/4 Takt der Musik hämmert dezent im Hintergrund, immer passend zu unseren Bewegungen. AROHA® nennt sich die Sportart. Es ist eine Mischung aus simplen Tanz- und Körperbewegungen, inspiriert vom maorischen HAKA, dem traditionellen Kriegs-Tanz der Ureinwohner Neuseelands.

Wir sind eine gemischte Gruppe, die sich einmal die Woche im Rehazentrum trifft, um fit zu bleiben? Jung zu bleiben? Gesund zu werden?

Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wieso die anderen da sind. Ich weiß nur, dass ich mit meinem Alter das Durchschnittsalter der Gruppe um einige Jahrzehnte drücke. So ist das in einem Rehazentrum. Ich hätte mich auch eher im Fitnessstudio gesehen, die bieten diesen Tanz auch an, aber dafür werden die Kosten nicht übernommen. 

Manchmal muss es der Rehakurs sein

Ich beobachte die Trainerin genau. Merke mir akribisch jede ihrer Bewegungen.

Die ersten 30 Minuten werden verschiedene Bewegungsabläufe nach und nach aneinander gereiht und dabei immer wieder wiederholt. Dann gibt es ein paar komplette Durchläufe.

Und selbst damit hatte ich die erste Zeit Schwierigkeiten: Mir zu merken, welcher Bewegungsablauf als nächstes kommt. Bereits nach 10 Minuten lies meine Konzentrationsfähigkeit auffallend nach. Mit Ach und Krach habe ich die 40 Minuten durchgehalten.

Dabei ist es für mein Ego enorm wichtig, es perfektionistisch richtig zu machen. Genau zu wissen, ob man bei diesem Bewegungsablauf den Kopf mitdreht oder man nach vorne schaut. Wo zeigt der Fuß hin? Sind die Finger angewinkelt oder hängen sie entspannt nach unten? 

Jeder Muskel meines Körpers muss exakt das tun, was er vorgemacht bekommt

Kein Wunder, dass ich anfangs Konzentrationsschwierigkeiten hatte: Diese Aufmerksamkeit kostet enorm viel psychische Kraft, muss mein Organismus doch alles im Auge behalten und gleichzeitig das Ganze direkt in eigene Bewegungen umsetzen. Ein immenser kognitiver Energieaufwand ist dafür notwendig.

Dabei interessiert es in dieser Gruppe niemanden, ob ich das alles richtig mache oder nicht. In der Sporthalle sind mindestens 30 Menschen anwesend und jeder macht so viel, wie er eben kann. Und in den seltensten Fällen sieht das aus wie bei der jungen, durchtrainierten Fitness-Trainerin, die seit 5 Jahren mehrmals wöchentlich diese Kurse gibt.

Tatsächlich denke ich, dass die meisten gar nicht wissen, dass sie es nicht richtig machen.

So what? Wir sind nicht hier, um es richtig zu machen, sondern um in unseren Körpern anwesend zu sein und uns zu bewegen.

Hörst du, Johanna? Du bist nicht hier, um es richtig zu machen

Obwohl ich das weiß, gibt es diesen inneren Drang in mir, es perfekt zu machen.

Perfektionismus, ist er angeboren?

Inzwischen weiß ich, dass dieser Drang konditioniert ist. D.h. ich habe in meiner Kindheit gelernt, alles perfekt zu machen. Es war in meiner Kindheit enorm wichtig, alles perfekt zu machen. Nur so habe ich Anerkennung und Aufmerksamkeit bekommen. Ich habe geglaubt, dass ich nur geliebt werde, wenn ich alles richtig mache.

Das war überlebenswichtig

Und dieses Gefühl des Überlebens ist in meinem Körper verblieben. Mein Organismus glaubt, dass wir („Wir“ als meine Ich-Einheit aus Körper und Persönlichkeit) nur überleben können, wenn wir alles perfekt machen. Nur dann sind wir Teil des menschlichen Rudels. Nur dann können wir Strafen entgehen.

Aufkommende Wut

Und während ich in dieser Sporthalle stehe und zum 3/4 Takt der Musik die vorgegebenen Bewegungsabläufe nachahme, werde ich wütend. Richtig wütend.

Wütend auf meine Vergangenheit, die mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Aber vor allem wütend auf mich selbst. Dass ich immer noch diesem Scheiß-Perfektionismus nachjage, obwohl ich weiß, dass diese Konditionierung eine Lüge ist. Ich weiß, dass das nicht wahr ist. Dass ich jetzt als Erwachsene die Dinge so machen darf, wie ICH sie machen möchte.

Tränen steigen mir in die Augen.

Tränen der Wut und der Verzweiflung

Die Erkenntnis

Und auf einmal ist die Erkenntnis da:

DAS BIN ICH!

Ja, den Perfektionismus habe ich durch das Verhalten dysfunktionaler Eltern gelernt, er ist nicht angeboren. Und dafür kann ich meine Eltern hassen und den Perfektionismus ablehnen. Und ich kann jetzt, zum Trotz!, alles genau so machen, wie ICH es machen möchte und immer einen Kampf gegen diese Konditionierung führen. Immer mehr den Hass in mir schüren bis er mich vollends aufzehrt.

Oder ich entscheide mich dafür, den Perfektionismus als Stärke zu sehen und diese Stärke für mich zu nutzen. Dieser Perfektionismus ist eine Gabe:

Ich bin extrem gut im Beobachten, sehe jeden kleinsten Unterschied in den Bewegungen der Trainerin und kann diese Beobachtung auf meinen eigenen Körper übertragen.

Ich passe mich schnell an neue Situationen an und bin in der Lage, das Gelernte in Millisekunden wieder abzurufen.

Die Leichtigkeit

Und auf einmal spüre ich Leichtigkeit in meinem Körper. Keine Tränen mehr. Kein Ablehnen der Situation. Kein Ablehnen von mir selbst.

Sondern ich erkenne mich selbst, als das, was ich bin: Ein menschliches Bewusstsein, das durch Erfahrungen und Ereignisse geformt wurde. Aber ich treffe als Erwachsene im Hier und Jetzt die Wahl, WIE ich sein möchte.

Ich verwandle den nicht angeborenen Perfektionismus in eine Superpower, die ich für mich nutze. Und wenn ich während der AROHA-Stunde etwas trinken möchte, trinke ich etwas, ohne auf die Pause zu warten. Und wenn ich heute die Übungen mit weniger Kraftaufwand machen möchte, mache ich das.

Oder ich entscheide mich dafür, voll rein zu gehen. Mein ganzes Potenzial auszuschöpfen.

Weil ich das so will.

In dieser Wahl liegt eine unglaubliche Freiheit verborgen

Die Wahl zu treffen ist ein Gefühl von Freiheit

2 Kommentare

  1. Lilly

    Kenn ich 😬

    Antworten

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