Die weggeschlossene Vergangenheit

Trauma neu gedacht

von | 18 Jun 2024 | Trauma, Umdenken

„Trauma“ kann viele Bedeutungen haben. Menschen, die an Flashbacks und körperlichen Einschränkungen leiden, haben einen anderen Blick auf dieses Wort (und vor allem ein anderes Gefühl in Verbindung mit diesem Wort), als Professionelle das tun. Ich glaube, wir alle tragen traumatische Erlebnisse in unseren Körpern. Diese weggeschlossene Vergangenheit beeinflusst unser aller Leben positiv und negativ, in den meisten Fällen völlig unbewusst. Aber vielleicht ist es Zeit, ein bewusstes Leben zu führen?

Trauma: die weggeschlossene Vergangenheit

Inhaltsverzeichnis über „Die weggeschlossene Vergangenheit“

Die Vergangenheit liegt hinter uns, richtig?

Wir schließen unsere schmerzliche Vergangenheit gerne in unsere Körper ein. Weil wir die Vergangenheit nicht fühlen wollen. Weil wir sie nicht sehen wollen.

Wir wollen ganz fest daran glauben, dass die Vergangenheit hinter uns liegt und uns nichts mehr anhaben kann.

Aber in Wirklichkeit lebt sie als unangenehme Energie in unseren Körpern weiter und treibt uns voran, positiv wie negativ. Sie führt zu Perfektionismus, Narzissmus, Krankheiten, Depressionen, Ängsten. Wie in meiner Geschichte über den Schrank der unterdrückten Gefühle, so unterdrücken wir unangenehme Gefühle aus der Vergangenheit.

Trauma?

In unserer Vergangenheit gab es Ereignisse, die so schlimm waren, dass wir die dazugehörenden Gefühle lieber weggeschlossen haben, anstatt sie zu erleben. Und dabei meine ich nicht zwangsläufig die Ereignisse, die die Psychiatrie als „Trauma“ bezeichnet.

Bedeutung von „Trauma“ in der Psychiatrie

Tatsächlich ist Trauma ein Begriff, den man nirgends als Diagnose findet. In medizinischen Fachkreisen spricht man von Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Als Diagnosekatalog wird dafür in Deutschland am häufigsten das ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) verwendet. Bis 2026 gilt hierbei die Fassung ICD 10, wobei eine aktualisierte Version, die ICD 11, bereits seit 2022 in Kraft ist.

In der ICD 10 wird eine Posttraumatische Belastungsstörung folgendermaßen definiert:
„Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ (https://klassifikationen.bfarm.de/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2024/block-f40-f48.htm).

„[…] die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ ist ein kleiner Zusatz in der ICD 10, der verhindert, dass viele „psychiatrische Patienten“ keine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert bekommen.

Der Traumabegriff wurde inzwischen durch das ICD 11 neu definiert und erweitert

Was die Definition nicht zum Ausdruck bringt, ist, dass wir am Ende alle Individuen sind. Das bedeutet, nur weil jemand anderes kein Problem damit hat, wenn er angebrüllt wird, muss das für mich nicht gelten. Als Kind zum Beispiel werden wesentlich mehr Ereignisse als bedrohlich empfunden, weil Kinder abhängig sind von den Erwachsenen in ihrer Umgebung. Ein unabhängiger Erwachsener, der Medizin studiert und den Facharzt in Psychiatrie gemacht hat, sieht das wahrscheinlich anders.

Diagnosen sollten die Individualität eines jeden Einzelnen anerkennen, anstatt alle über einen Kamm scheren zu wollen.

Mir wurde zum Beispiel keine Posttraumatische Belastungsstörung zugesprochen, weil es nach Ansicht der Ärzte nicht ausreichend Belege dafür gab (weil ich diese Erinnerungen abgespalten hatte, das hat aber niemand in Erwägung gezogen). Erst seit drei Jahren steht, rein zufällig, in einem psychiatrischen Dokument PTBS.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon länger, dass meine „psychischen Probleme“ von Kindheitstraumata herrührten.

Aber ich hatte mich davon gelöst, Bestätigung bei Professionellen zu suchen und mir vom Außen anerkennen zu lassen, dass meine eigenen Gefühle stimmen. 

Keiner hat je mit mir über die Diagnose PTBS gesprochen

Mein Verständnis von „Trauma“ ist der, dass alle Ereignisse, die Gefühle in einem ausgelöst haben, die so schlimm waren, dass sie zum Zeitpunkt des Auftretens nicht erlebt werden konnten, zu einem Trauma führen können.

Oder vereinfacht gesagt: In dem Moment, wo ich mir wünsche, dass meine Kinder eine andere Kindheit erleben als ich selbst, kann man von Trauma sprechen. Ganz simpel.

„Trauma“ heißt für mich, dass Gefühle im Körper „weggeschlossen“ wurden und im Hier und Jetzt durch Krankheit, durch soziale Auffälligkeiten, durch Persönlichkeitsanteile zum Ausdruck kommen, ohne dass es dem einzelnen Individuum bewusst ist. Diese unterdrückten Gefühle beeinflussen die komplette Persönlichkeit.

Erinnerungen?

Wir wollen uns einfach nicht an die weggeschlossene Vergangenheit erinnern. Aus gutem Grund.

Ich will mich auch nicht erinnern. Aber dann zwingt mich mein Körper dazu.

Er wird immer schwächer, verkrampfter, schmerzhafter bis zu dem Punkt, wo ich die schlimme Energie aus der Vergangenheit zulasse.

Ich habe schreckliche Angst vor diesen Symptomen, aber wahrscheinlich ist meine wahre Angst die Angst vor den Erinnerungen, gar nicht so sehr die Angst vor den körperlichen Symptomen. Beides kann ich aber nicht voneinander trennen

Das körperliche Unwohlsein geht mit dem psychischen Unwohlsein Hand in Hand

Wenn ich der Energie erlaube da zu sein, schwappt sie über mich drüber wie eine Welle und reißt mich mit. Zurück in schlimme Gefühle, die mich im Hier und Jetzt heimsuchen. So musste ich lernen, die Kontrolle abzugeben.

Wenn ich die Symptome rationalisiere (d.h. mir einrede, dass das alles nicht so schlimm ist, dass das schon wieder weggehen wird, dass mir irgendwer helfen wird), werden sie lauter. Immer lauter, bis ich keine Kraft mehr habe dagegen anzukämpfen.

Und dann ist die Vergangenheit auf einmal nicht mehr weggeschlossen. Sie findet in der Gegenwart statt, weil sie immer noch in meinem Körper weiterlebt.

Nicht gehört werden

Gerade beschäftigt mich das Gefühl nicht gehört bzw. gesehen worden zu sein. Niemand wollte sehen, was in meiner Familie passierte und was das mit mir machte. Alle wollten nur meine Rolle sehen, die erzählte, dass ich alles im Griff hatte. Die Johanna brauchte nie Hilfe.

Ich war Perfektionistin, sozial, gut angezogen und hatte ordentlich gekämmte Haare.

Und alle waren froh, dass ich es im Griff hatte. So mussten sie selbst nicht aktiv werden. So mussten sie nicht in die dunklen Abgründe von jemand anderem eintauchen, obwohl sie noch nicht mal ihre eigenen dunklen Abgründe im Griff hatten.

Dieses Gefühl sucht mich am heutigen Tage heim.

Nie hat jemand zugehört. Selbst Therapeuten wollten nur das Therapieziel erreichen, mich sehen wollten sie nicht. Und so haben sie das eigentliche Problem übersehen: Dass die „Depression“ und die „Angststörung“ nur Hinweise auf etwas Tieferliegendes waren.

Dadurch habe ich gelernt, meine verletzten Persönlichkeitsanteile tief in mir zu verstecken. Sie waren unerwünscht.

Das hier geht an alle, die nicht gehört und nicht gesehen wurden:

Ich höre und ich sehe euch

Tiefe Tauchgänge

Mittlerweile tauche ich ungewollt tagtägliche in die dunklen Abgründe meiner Psyche ein, um jeden Rest meiner weggeschlossenen Vergangenheit ausfindig zu machen und die Energie zu lösen, so dass ich im Hier und Jetzt ein freies Leben führen kann. Ein Leben, dass nicht heimgesucht wird von der weggeschlossenen Vergangenheit.

Solange noch Reste da sind, werde ich weiter Vergangenes fühlen müssen. Ich hatte mir ein anderes Leben vorgestellt. Und jetzt ist es so.

Die Menschheit und ihre weggeschlossene Vergangenheit bzw. Trauma

Natürlich ist das meine persönliche Geschichte.

Trotzdem glaube ich aber, dass so gut wie alle Menschen auf diesem Planeten Gefühle aus der Vergangenheit ins sich weggeschlossen haben, nur wissen sie es nicht, oder wollen es nicht wissen.

Und diese vergangenen Gefühle beeinflussen das Leben im Hier und Jetzt. Positiv wie negativ. Unsere Gesellschaft wird gesteuert von unterdrückten Gefühle (ohne hier jetzt mit dem Finger zum Beispiel auf Politiker zeigen zu wollen).

Am Ende können wir vor der Vergangenheit nicht weglaufen, sie wird uns immer einholen, weil wir sie tagtäglich leben. Weil wir unsere Vergangenheit geworden sind.

Selbst wenn wir den Zusammenhang nicht erkennen, werden unsere Körper Symptome und Erkrankungen zeigen, die auf den ersten Blick nichts mit Emotionen zu tun haben. Die aber von der weggeschlossenen Vergangenheit verursacht werden.

Und das vielleicht Schlimmste ist, dass es nicht nur unsere eigene erlebte Vergangenheit ist. Wir tragen auch die weggeschlossene Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern in uns. Die Epigenetik beschäftigt sich mit diesem Thema. Traumata, die andere erlebt haben, sitzen in unseren Körpern und wollen gefühlt werden.

Dabei hab ich schon genug mit meiner eigenen Vergangenheit zu tun!

Je länger wir uns wehren die weggeschlossene Vergangenheit zu fühlen, desto lauter wird sie werden. Desto mehr Krankheit wird es geben. Wie mein Körper es mir seit Jahren vorlebt. Je mehr ich mich wehre, desto unangenehmer wird es.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass jeder Einzelne den Mut hat, sich die eigene weggeschlossene Vergangenheit anzuschauen, bevor es zu physischen Symptomen kommt.

Und dann bewusst eigene Entscheidungen zu treffen, anstatt unbewusst ein Leben basierend auf traumatischen Kindheitserlebnissen zu führen

Die Menschheit kann sich weiterentwickeln

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