Das F-Wort unserer Gesellschaft

von | 05 Apr 2024 | Perspektivwechsel, Umdenken

Diskriminierung ist theoretisch in unserer Gesellschaft kein Thema. Alle sind furchtbar tolerant. Außer man kann nicht (mehr) so, wie die Gesellschaft das gerne hätte. Und nach und nach spürt man, dass man irgendwie nicht mehr dazu gehört, auch wenn es (vor allem in intellektuelleren Kreisen) wohl kaum einer direkt anspricht. In unserer Gesellschaft gibt es ein großes Unwort, was indirekt jeder erfüllen muss, der dazu gehören möchte.

Unangenehme Gefühle verbergen sich im Minenfeld

Inhaltsverzeichnis über Diskriminierung in unserer Gesellschaft

Recht und Ordnung durch Regeln

In unserer Gesellschaft gibt es viele Regeln, an die sich jeder Beteiligte halten muss, wenn er Teil dieser Gemeinschaft sein will. Das ist notwendig, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten, nicht wahr?

Nur scheinen die Regeln immer umfangreicher zu werden, immer enger wird der Rahmen, in dem wir unsere Leben leben. Individualität ist nicht gewünscht, erst recht nicht, wenn sie nicht den Regeln der Gesellschaft entsprechen.

Richtig schwierig wird es aber, wenn das F-Wort ins Spiel kommt. Es ist das Unwort unserer Gesellschaft, nie ausgesprochen, aber von denjenigen, gegen die es verwendet wird, immer präsent, immer spürbar.

F wie Funktionieren.

Die oberste Regel in unserer Gesellschaft ist es zu funktionieren, so wie das die Gruppe möchte. Wer nicht funktioniert, kann kein Teil dieser Gruppierung mehr sein. Wer nicht funktioniert, ist auf sich allein gestellt.

Was ist mit unserer Solidargemeinschaft?

Halt, stopp! Wir haben doch eine Solidargemeinschaft! Die Arbeitenden zahlen Geld in Form von Steuern für diejenigen, die nicht mehr arbeiten können! Richtig, wir nennen das in Deutschland Bürgergeld. Der Abschaum des Abschaums bekommt Bürgergeld (so Leute wie ich). Mal ehrlich, das sind doch alles Schmarotzer. Tun so als wären sie zu krank zu arbeiten und machen sich nen faulen Lenz während sich der Rest abrackert!

Dieses Gefühl ist es, was viele „Kranke“ davor zurückschrecken lässt, längere Zeit krankgeschrieben zu sein. Sie werden zum Abschaum, abgestempelt, dürfen kein Teil dieser Gemeinschaft mehr sein.

Mir geht es hierbei nicht um das Geld, was um einiges geringer ausfällt, als bei Normalverdienern. Es geht mir um das Gefühl, was mir die Welt gibt, wenn ich nicht (mehr) arbeiten kann.

Das Gefühl ausgeschlossen zu sein

Keiner sagt das natürlich direkt. Das wäre Diskriminierung. Aber ich spüre es. Ich spüre ihre Ablehnung, ich spüre den Widerwillen, der aus jeder Pore ihres Wesens austritt. Und dabei ist das große Thema: Will ich nicht arbeiten oder kann ich nicht arbeiten?

Kann ich nicht oder will ich nicht?

Worin genau liegt bei psychischen Herausforderungen der Unterschied? Kann ich nicht Busfahren oder will ich nicht Busfahren? Ich habe zwei Beine, die beweglich sind, ein paar Straßen weiter ist eine Bushaltestelle. Physisch bin ich in der Lage Bus zu fahren. Also scheine ich nicht zu wollen.

So ist es auch mit der Arbeit. Ich habe bewegliche Finger und die meiste Zeit ein funktionierendes Gehirn (ganz wichtig: Funktionieren!), ich könnte also als Texterin arbeiten. Warum tue ich es nicht? Weil ich lieber mein Leben als Hartzerin genieße (ja, Hartzerin, Bürgergeldempfänger*innen werden Hartzer bleiben, ausgespuckt und abfällig)?

Funktionierende Physis

Also, mein Körper scheint funktional, die meiste Zeit jedenfalls. Trotzdem funktioniere ich für die Gesellschaft nicht richtig. Dabei ist es wichtig zu funktionieren.

Als das alles anfing lauter zu werden, wollte ich um jeden Preis funktionieren. Damals bedeutete das für mich, zu Ende zu studieren, arbeiten zu gehen und ein lebhaftes Privatleben zu haben. Ich habe brav die Pillen genommen, die mir verschrieben wurden, war in Kliniken, habe mir einen Skill-Koffer zugelegt, habe mich bewegt und Entspannungsübungen gemacht.

Ich war eine brave Patientin. Und all das hat mich kurzfristig wieder zum Funktionieren gebracht.

Wie ein Motor, den man mit Benzin befüllt ohne zu merken, dass der Tank ein Leck hat.

Der Motor wird für kurze Zeit wieder anspringen, wird funktionieren, wenn er mit Benzin gefüllt wird. Bis das Benzin verbraucht und ausgelaufen ist. Besonders lange hält dieser Motor nicht durch.

Und so habe auch ich nicht lange durchgehalten bis der nächste Zusammenbruch kam. Und je länger ich nicht funktionierte, desto weniger Menschen blieben in meinem Leben übrig. Keine Freunde mehr, die mich in Kliniken besuchten. Keine Arbeitskollegen, die mir Nachrichten schrieben.

Da war nur ich und meine nicht funktionierende Psyche.

Ein Heilerziehungspfleger hat mal im Bezug zu Behinderung und Arbeit zu mir gesagt, dass er sich ärgere, wenn andere genauso viel Geld kriegen wie er, obwohl sie wesentlich weniger Leistung erbringen.

Schließlich leisten Nicht-Funktionierende nichts. Sie tragen nichts bei. Sie sind ein Klotz am Bein, der den anderen die Arbeit noch erschwert.

Wer nicht funktioniert hat kein Recht auf einen „normalen“ Lebensstandard.

Diskriminierung von einigen aus unserer Gesellschaft

Denken alle so? Eher nicht.

Trotzdem bleibt das Gefühl bei mir, dass wesentlich mehr Menschen in Deutschland so denken und es nur nicht aussprechen.

Aber in all den Nicht-Funktionierenden bleibt das schale Gefühl zurück, kein Teil mehr zu sein. Keine Leistung zu erbringen bedeutet eben kein vollwertiges Mitglied der Solidargemeinschaft zu sein. Das wurde von klein auf in uns alle eingeimpft. In die Funktionierenden und die Nicht-Funktionierenden.

Das sitzt so tief, dass es nur als laues Gefühl an die Oberfläche kommt. Ein Gefühl, das sich schwer beschreiben lässt. 

Das Gefühl, nicht vollwertig zu sein, weil ich nicht funktioniere.

Ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft

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