Mein kleines Mädchen
Über traumatisierte Persönlichkeitsanteile + mein Umgang mit ihnen
Traumatisierte Persönlichkeitsanteile existieren in jedem von uns, auch wenn die meisten sie nicht sehen können oder wollen. Ich wusste die meiste Zeit meines Lebens nichts über meine verschiedenen Persönlichkeitsanteile und wie sie unbewusst mein Leben bestimmen. Inzwischen lebe ich mit meinen inneren Kindern und, wie mit physischen Kindern auch, birgt das einiges an Herausforderungen und ich musste lernen, mein eigenes Ego zurückzunehmen.
Inhaltsverzeichnis über „Mein kleines Mädchen“
Ausnahmesituation
Tränen strömen ihr übers Gesicht und sie schluchzt haltlos. Sobald etwas anders läuft, als wir das geplant haben, gerät sie in Panik und sie ist überfordert. Ich setze sie erstmal auf die Couch und sie darf auf SWR „Nashorn, Zebra und Co.“ schauen. Die Musik und die Stimme des Sprechers beruhigen sie immer.
Wir entscheiden nachher, wie wir weiter machen werden. Uns fällt schon was ein.
Inzwischen kenne ich sie so gut, dass ich weiß, dass Planänderungen ihre Unsicherheit triggern und es die Angst fördert. Dann läuten alle Alarmglocken in ihr und sie fängt an ihr Leben kontrollieren zu wollen, sich die Sicherheit wieder erkämpfen zu wollen. Nur durch Kontrolle war es ihr möglich ihr Nervensystem so weit herunter zu fahren, dass sie simple tägliche Dinge erledigen konnte.
Ist Kontrolle immer noch notwendig?
Mittlerweile wäre die Kontrolle nicht mehr notwendig: Vergleichsweise leben wir inzwischen in einer Art Überfluss (obwohl wir nur Bürgergeld bekommen, können wir selbst darüber entscheiden, wofür wir das Geld ausgeben und wo wir sparen wollen) und können selbst über unser Leben entscheiden. Wenn wir den Plan ändern wollen, ändern wir ihn einfach. Oder nicht. Niemand entscheidet darüber.
Aber diese Überlebenskontrolle ist so in ihr Nervensystem eingeimpft, dass ihr Organismus automatisch in Hab-Acht-Stellung geht, wenn Unvorhergesehenes passiert.
Peng, alle Systeme in Alarmbereitschaft!
Diese Energie muss dann erstmal wieder abgebaut werden. Meistens durch weinen. Und ich erlaube ihr das. Und wenn sie dann für den Rest des Tages nur Schokolade essen möchte, erlaube ich ihr auch das. Für ihren Körper sind diese Momente extrem anstrengend und sie kosten ihn sehr viel Kraft. Die er sich dann mit Schokolade wieder zurück holt.
Wer ist dieses Mädchen?
Mein kleines Mädchen lebt nicht AUßERHALB von mir, sondern IN mir. Sie ist ein Teil von mir. Ein sehr alter Persönlichkeitsanteil, der Emotionen erlebt hat, die er zum Zeitpunkt ihres Auftretens nicht verarbeiten konnte.
Den Großteil meines Erwachsenenlebens wusste ich nichts von meinem kleinen Mädchen. Erst seit ein paar Jahren bin ich mir bewusst darüber, dass ich viele Erlebnisse aus meiner Kindheit nicht verarbeitet habe und es Anteile in mir gibt, die nie erwachsen wurden.
Was die Psychotherapie mich gelehrt hat
Tatsächlich habe ich jahrelang der Psychotherapie geglaubt, die mir erzählt hat, dass es nicht ok ist, Angst zu haben. Es ist nicht ok, einfach so zu weinen, wenn sich Pläne ändern. Es ist nicht ok zu kontrollieren.
Ich habe gelernt, dass ich mich selbst für diese Verhaltensweisen verurteilen muss, so wie mich die Psychotherapeuten verurteilt haben. „Sie sind selbst dran Schuld, dass es Ihnen nicht besser geht, wenn Sie weiter kontrollieren und vermeiden!“. Das war ihre Aussage. Ich war immer selbst dran Schuld. Vermeidung war das große Unwort.
Mittlerweile weiß ich, dass traumatisierte Persönlichkeitsanteile Sicherheit brauchen. Aber das konnte oder wollte niemand sehen.
Mein Leben lang musste ich kämpfen, jetzt war es an der Zeit zu erlauben. Und meinem inneren Kind das zu geben, was es nie bekommen hat: Sicherheit, Verständnis, gesehen und gehört werden, mit all ihren Bedürfnissen und Unsicherheiten.
Wenn „physische“ Kinder das Leben verändern
Wie bei „physischen“ Kindern auch, verändert sich auf einmal radikal das eigene Leben, sobald ein Kind auf der Bildfläche erscheint.
Dinge, die man vorher gemacht hat, sind auf einmal nicht mehr möglich. Das eigene Leben wird bestimmt vom Lebensrhythmus eines anderen Lebewesens. Man muss lernen, sein eigenes Ego zurückzustellen und sich auf dieses andere Wesen einzulassen.
Ich zum Beispiel kann momentan nicht mehr reisen oder auf Feste gehen. Große Menschenmengen machen meinem inneren Kind Angst, Menschen im Allgemeinen. Und ich passe mich an, weil ich sie liebe und ich sie beschützen möchte.
Kinder zu haben ist ein Commitment!
In unserer „modernen“ Gesellschaft wollen viele inzwischen ALLES: Kinder, Hunde, Karrieren, Party, einen großen Garten, regelmäßig große Urlaube machen…
Und irgendwer fällt dabei herunter. Aus meiner Perspektive sind das häufig die Kinder, die mit ihren Ängsten und Unsicherheiten alleine gelassen werden.
Aber ich lasse mein kleines Mädchen nicht mehr alleine. Ich gebe ihr nicht die Schuld daran, dass wir nicht mehr reisen können. Oder dass wir anfangen zu weinen, wenn sich Pläne ändern. All das darf sie zeigen, weil sie es in ihrer eigenen Kindheit nicht zeigen durfte. Nichts davon war erwünscht.
Aber bei mir ist es erwünscht.
Auch ich bin mal genervt
Ich erwische mich manchmal dabei, wie ich genervt reagiere, wenn sie wieder weinerlich wird oder bestimmte Sachen nicht machen möchte.
Zum Beispiel liegt der YouTube-Kanal erstmal auf Eis. Das schafft sie nicht. Die Kommentare unter der Gürtellinie schafft sie nicht. Und das muss sie auch nicht. Dann machen wir keine Videos mehr.
Für ihre Emotionen wurde sie immer beschämt oder gerügt, jetzt darf sie sie zeigen.
Kinder werden erwachsen
Und irgendwann kann ich ihr vielleicht so viel Sicherheit und Vertrauen geben, dass sie den Mut hat wieder irgendwohin zu reisen.
Gemeinsam mit mir.
Dann lässt sie nach und nach meine Hand los und ich integriere sie völlig in mein Sein.
Oder vielleicht brauchen diese traumatisierte Persönlichkeitsanteile diese Form der Sicherheit für den Rest unseres Lebens.
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