Kindliche Wut
Wie entsteht kindliche Wut? Wie sieht eine typische Konfliktsituation, bei der kindliche Wut entsteht, aus Sicht eines Kindes aus? Es ist Zeit für einen Perspektivwechsel, um zu erkennen, dass auch Kinder emotionale Bedürfnisse haben und Grenzen setzen dürfen. Kindliche Wut entsteht nicht ohne Grund, sondern resultiert aus dem Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich das Kind befindet.
Inhaltsverzeichnis über kindliche Wut
Fiktives Szenario zur Entstehung kindliche Wut
Ein Junge, nennen wir ihn Hans, sitzt gedankenversunken auf seinem Spielteppich und baut mit Lego eine Weltraumstation. Er ist 4 Jahre alt. Seine Mutter kommt und erklärt ihm (wie sie das in pädagogischen Büchern gelesen hat), dass er jetzt noch 20 Minuten spielen kann und sie dann zur Oma fahren.
Hans baut also seine Weltraumstation und freut sich, als die Männchen ein und aus gehen können. Er vergisst alles um sich herum (ist das nicht ein Segen!).
Nach 20 Minuten kommt seine Mama und fordert ihn auf alles wegzuräumen und sich umzuziehen. Hans versteht überhaupt nicht, er hat doch noch gar nicht fertig gespielt! Die Station wurde gerade erst fertig und er freut sich doch so, dass seine Männchen jetzt Raumfahrer sein können.
Seine Mutter fordert ihn ein weiteres Mal auf, diesmal in schärferem Ton. Hans spürt etwas in ihm. Er will jetzt noch nicht aufräumen! Er will erst fertig spielen! Genau das sagt er auch seiner Mama. Da ist etwas in ihm, was raus will. Er will weiterspielen! Er stampft mit seinem kleinen Fuß fest auf den Boden auf, um dieses komische Gefühl los zu werden.
Je weniger Grenzen das Kind setzen darf, desto lauter wird die kindliche Wut.
Seine Mama wird jetzt laut. „Nein, ich habe dir gesagt, dass wir gleich zur Oma fahren, du brauchst dich gar nicht zu ärgern. Räum das jetzt weg!“
„Ich will aber nicht!“, brüllt Hans. Wie kann seine Mama das nur von ihm verlangen? Er hat doch noch gar nicht fertig gespielt. Tränen sammeln sich in seinen großen Augen, das ist so ungerecht! Nie darf er fertig spielen.
Genervt zerrt seine Mama ihn vom Spielzeug weg: „Zieh deine Jacke an, wir fahren jetzt zur Oma!“. Jetzt fängt Hans laut zu weinen an und wirft ein Spielzeug nach seiner Mama. Da ist diese Energie in ihm und die will raus. Die muss irgendwo hin. Wie kann seine Mama so gemein sein? Die Energie macht ihm Angst.
Als das Spielzeug, das er geworfen hat, vor die Füße seiner Mama rollt, flippt die richtig aus: „So nicht, mein Freund! Darüber reden wir, wenn dein Vater nach Hause kommt!“ Gewaltsam zerrt sie Hans in den Hausflur und zieht ihm seinen Anorak an. Dabei kratzt sie ihn aus Versehen mit ihren Fingernägeln, was ihm wehtut und ihn noch mehr zum Weinen bringt. Das Zerren tut ihm auch weh. Seine Mama hat ihn jetzt nicht mehr lieb.
Aber er wollte doch nur zu Ende spielen! Und dann war da dieses komische Gefühl und er weiß nicht, was er damit machen soll. Er hat Angst vor diesem Gefühl. Seine Mama wird immer ganz böse, wenn er diese Energie raus lässt. Er darf das nicht mehr zeigen. Heute Abend wird sein Papa auch ganz böse sein und ihn nicht mehr lieb haben.
Analyse „Kindliche Wut“
Das komische Gefühl, das Hans spürt, ist Wut. Genauer gesagt möchte er eine Grenze setzen. Als Kind ist er jedoch in den meisten Situationen hilflos den Erwachsenen ausgeliefert. Er muss das tun, was sie sagen oder sein physisches Überleben ist gefährdet. Und um physisch zu überleben, ist der Schutz des Rudels (also der Familie) notwendig. Er muss Teil der Familie bleiben, nur so kann er weiter existieren.
Wenn aber alle böse auf ihn sind, weil er das Gefühl „Wut“ zum Ausdruck gebracht hat, bringen seine evolutionären Gene eine Überlebensangst ins Spiel. Wenn er wütend ist, wird er nicht mehr geliebt und wird aus dem Rudel verstoßen, weswegen er als kleines Kind nicht überleben wird. Er hat jetzt die Wahl: Das merkwürdige Gefühl (die kindliche Wut) in ihm unterdrücken und dafür überleben oder dem komischen Gefühl nachgeben und dafür aus der Familie ausgestoßen werden.
Nichts von all dem ist ihm bewusst. Er reagiert nur auf das, was er empfindet und die älteren Teile in seinem Gehirn übernehmen für ihn die Entscheidung.
Das physische Überleben ist am wichtigsten, also wird das Gefühl Wut unterdrückt. Aber dadurch geht das Gefühl nicht weg. Es ist Teil des menschlichen Lebens und vermutlich wird er für den Rest seines Lebens total unbewusst dieses Gefühl in Schach halten müssen. Dieses Unterdrückungsprogramm läuft im Hintergrund ab, ganz ohne sein Wissen und sein Zutun, aber trotzdem wird es Lebensenergie verbrauchen.
Das Unterdrückungsprogramm wird für den Rest seines Lebens im Hintergrund ablaufen.
Das Unterdrücken seiner kindlichen Wut wird ihm aber nicht immer gelingen. Es wird Zeiten geben, in denen sich das Gefühl der Wut in einem zerstörerischen Vulkanausbruch Bahn bricht, bis der größte Druck abgebaut ist und er es wieder tief in seinem Unterbewusstsein verstaut. Bis zum nächsten Ausbruch.
Vielleicht wird ihn diese unterdrückte Wut ein Leben mit chronischer Gastritis oder mit Gallensteine einbringen. Vielleicht entwickelt sie sich aber auch zu einer Autoimmunerkrankung, wie Multiple Sklerose, oder Krebs. Die Energie der Wut verbleibt in seinem Körper und findet andere Wege sich bemerkbar zu machen.
Was wäre, wenn?
Was wäre, wenn die Mama die Bedürfnisse von Hans erkennen würde? Sie könnte anerkennen, dass er, subjektiv betrachtet, als Kind keine Rechte hat. Er kann nie selbst über sein Leben entscheiden. Es entscheiden immer Erwachsene darüber, was in seinem Leben passiert: Was er wann zu essen hat, wann er auf’s Klo gehen soll, wann er schlafen soll, wie lange er spielen darf, dass er spielen muss, in welchem Zimmer er spielen darf oder muss, wer seine Freunde sind usw. Natürlich wird man da wütend!
Anstatt also auf die kindliche Wut mit Wut zu reagieren, kann seine Mama das verletzliche, unschuldige Kind in ihm sehen, das einfach nicht weiß, was dieses Gefühl in ihm ist und anerkennen, dass auch Hans Rechte hat und seine emotionalen Grenzen verteidigen will.
Kinder haben ein Recht Grenzen zu setzen!
Um aber die Bedürfnisse und vor allem die Gefühle von Hans wahrzunehmen, muss die Mama sich mit sich selbst auseinandersetzen und von den eigenen Bedürfnissen zurücktreten. Muss sie alles bestimmen? Müssen sie jetzt zur Oma fahren? Oder ist es ok, Hans fertig spielen zu lassen?
Natürlich muss auch Hans lernen, wo die Grenzen von anderen liegen. Aber auch das ist ein Prozess, in den die ganze Familie integriert werden muss. Vielleicht kann man ihm zumindest Raum geben, seine Wut zum Ausdruck zu bringen? Ihm zeigen, dass es ok ist, wütend zu sein, aber dass man niemand anderes mit der Wut verletzen darf.
Seine Mama könnte ihm helfen, dieses Gefühl in ihm zu benennen und gemeinsam mit ihm zu lernen, wie sich dieses Gefühl in ihm anfühlt. So merkt er, wann er wütend wird und kann diese Wutenergie in andere Bahnen lenken.
Fazit „Kindliche Wut“
Kindliche Wut zu unterdrücken, führt zu psychisch und physisch stark belastenden Erwachsenen, die sich oft hinter einer dicken narzisstischen Mauer verstecken.
Im Umgang mit den Gefühlen von Kindern müssen besonders die Caretaker reflektiert und achtsam sein, um so das Kind mit Fürsorge durch die kindliche Wut zu begleiten.
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