Die YouTube-Prostitution

Gesehen werden

von | 24 Mai 2024 | Perspektivwechsel

YouTube-Prostitution… Harte Worte, aber manchmal empfinde ich es genau so, wenn ich Videos bei YouTube hochlade: Als ob ich mich prostituieren würde für ein paar Likes und für mehr Follower. Die Plattform bietet die Möglichkeit einer schnellen Ablenkung vom Alltag. Aber ich möchte keine Ablenkung sein. Ich möchte etwas verändern. Ich möchte den Menschen helfen ihre eigenen Stärken wiederzufinden. Ist das vielleicht zu viel verlangt? Oder muss ich einfach lernen, wie ich den Umgang mit YouTube emotional besser verarbeite?

Meine YouTube-Prostitution

Inhaltsverzeichnis über „Die YouTube-Prostitution“

30.12.2023

Die Veröffentlichung meines ersten YouTube-Short-Videos

An diesem Tag hatte ich den Mut, mein allererstes Video auf YouTube hochzuladen. Niemand in meiner Welt wusste davon. Niemand hat sich das Video angeschaut, nur weil er sich emotional verpflichtet gefühlt hat.

Es gab nur mich und die große weite YouTube-Welt.

Und die Angst davor, was passiert, wenn ich es hochlade.

Wie es zur YouTube-Prostitution kam

Ich wollte nie irgendetwas bei Social Media machen.

Das sind garstige Orte, an denen viele emotional schwer verletzte Menschen anonym ihre emotionalen Schmerzen an anderen auslassen. Es geht um Status und sehr viel Fremdwert: Wie viele Likes hat ein Video? Ging es viral? Wie viele Follower hat der Kanal?

Jeder teilt ungefragt seine Meinung zu allem mit. Und oft geht es darum, ANDERER Meinung zu sein.

Viele Menschen scheinen nur darauf zu warten, dass endlich der richtige Trigger gesetzt wird, damit sie richtig ausrasten und all ihren emotionalen Schmerz aus längst vergangener Zeit an fremden Leuten auslassen können, in dem Glauben, es ginge ihnen danach besser.

Ich wollte nie ein emotionaler Punchingball sein

Und trotzdem saß ich nach einem schweren emotionalen Zusammenbruch in einer Ferienwohnung und hatte DAS GEFÜHL ein Video aufnehmen zu müssen.

Ein Video für YouTube.

Kaum war die Kamera an, war mein Gehirn komplett leer (ist es bis heute sobald die Kamera läuft 😂) und ich starrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht in dieses kleine schwarze Loch an meinem Macbook. Dann fing ich an zu weinen.

Meine allererste Videoaufnahme war also nicht so der Bringer. Wenig überraschend hab ich es auch nie veröffentlicht.

Das war der Beginn. Unspektakulär und komplett ungeplant.

Keine Zukunftsvisionen von mir, wie ich mit viel Geld (was ich natürlich mit YouTube verdienen werde, wenn erstmal alle meine Videos viral gehen) und einem YouTube Creator Award in einer Villa im Grünen sitze.

Nur das Gefühl, dass ich einen YouTube-Kanal machen sollte

Ich habe über nichts nachgedacht: Keine Zielgruppenanalyse, keine Überlegungen über den Namen, worum es überhaupt in dem Channel gehen soll, welche Farben ich für mein Logo verwenden sollte. Nichts.

Ich habe einfach gemacht.

Und geboren wurde Gefühle-Fühlen.

Warum YouTube?

YouTube war mir ein treuer Begleiter in meinen dunkelsten Jahren.

Besser gesagt waren es all die unerschrockenen Menschen da draußen, die den Mut hatten und immer noch haben, ihr Gesicht in eine Kamera zu halten und allen Garstigkeiten zum Trotz ihren Content über Trauma, über Lebensweisheiten, über spirituelles Erwachen, über Psychologie, all ihre eigenen Wahrheiten zum Besten zu geben, damit andere denselben Weg gehen können.

Ihr wart mir eine große Stütze

Weil ihr mir eure Wahrheiten erzählt habt, konnte ich meine Wahrheit finden.

Durch YouTube konnte ich mein eigenes Weltbild hinterfragen, konnte mich informieren, konnte lernen mir selbst zu helfen, nachdem die Psychotherapie mich im Stich gelassen hatte.

Nachdem alles in meinem Leben zusammengebrochen war (inklusive meines Ich-Verständnisses), gab es immer noch YouTube. Mit kostenlosen Meditationen, Sportübungen, Musikvideos, Channelings, Chantings, Tanzübungen, Häkelanleitungen, DIYs, Makramees, wie schneide ich einen Apfelbaum richtig, netten Geschichten, harten Geschichten, Filmauschnitten, Kochrezepten, Tarotkartenreadings, wie mache ich aus Brennnesseln eine Schnur, Live-Spacewalks der NASA, SpaceX Falcon Launches, und, und, und.

Deswegen YouTube.

Warum YouTube-Prostitution?

„Prostituere“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Sich zur Schau stellen“ .

Nein, ich ziehe mich in meinen Videos nicht aus oder biete sexuelle Dienstleistungen an.

Ich rede nur. Über Gefühle und Emotionen. Nicht gerade ein beliebtes Thema in unserer Gesellschaft.

Und ich habe das Gefühl mich zur Schau zu stellen.

Die Ware „Johanna“ wird begutachtet und bewertet

Was natürlich daran liegt, dass ich mich persönlich einbringe. ICH BIN dieser Kanal.

Ich bin keine KI oder irgendeine Rolle. Sondern ich bin Ich und dieses Ich zeige ich ungeschminkt in meinen Videos.

Und genau das ist, was es für mich so herausfordernd macht. Es gibt mir ein Gefühl von Angreifbarkeit.

Durch die Identifikation mit diesem Kanal habe ich das Gefühl, dass *keine* Likes bedeutet , dass *ich* nicht gemocht werde. Dabei werden einfach die Videos nicht gemocht und in vielen Fällen hat das sicherlich nicht direkt etwas mit mir zu tun.

Seien wir ehrlich: Für die meisten Menschen sind Gefühle und Emotionen etwas, was man besser nicht hat und sich erst recht nicht damit beschäftigt!

Fakten zu meinem ersten YouTube-Video

Mein erstes YouTube-Video habe ich „A Year Ago“ genannt, es dauert 46 Sekunden und man sieht darin Bilder von mir aus dem Jahr 2023, hinterlegt mit einem Lied von Neffex „A Year Ago“.

Bis zum heutigen Tag hat es 82 Aufrufe, 5 Likes (eigentlich nur 4, weil der eine Like von mir selbst kommt) und die durchschnittliche Wiedergabedauer beträgt 24 Sekunden.

Das bedeutet, dass dieses YouTube-Short durchschnittlich 24 Sekunden angeschaut wurde. Bei einer Gesamtlänge von 46 Sekunden! 

Willkommen bei YouTube, Johanna. Dem Ort, an dem sich Menschen für ein paar Likes prostituieren

Unbegründete Sorgen und begründete Enttäuschungen

Um ehrlich zu sein, war ich immens erleichtert, als nach dem Hochladen rein gar nichts passierte 😂 Es gab keine Likes und keine Kommentare. Perfekt!

Bis ich mich daran erinnerte, dass ich das ja aber bei YouTube hochgeladen hatte, damit etwas passierte.

Es sollte der Welt sagen: Ich bin hier! Ich strecke meinen Kopf aus meiner Traumablase und werde gesehen, ungeschminkt, ohne eine Rolle, nur mein rohes Ich.

Und dann fing der innere Kampf in mir an, ob ich Likes wollte oder nicht. Ob ich Kommentare wollte oder nicht. Ob ich gesehen werden wollte oder nicht.

Gesehen werden

5 Monate und 84 Videos später habe ich immer noch Schwierigkeiten damit gesehen zu werden.

Weil viele nicht wohlwollend sind. Weil es Menschen gibt, die sich selbst von meiner eigenen Geschichte triggern lassen und das an mir auslassen. Dabei lassen sie es in Wirklichkeit nicht an mir aus, sondern an dem, was sie in mir sehen wollen.

Wir sehen die Welt nicht so, wie sie ist. Wir sehen sie so, wie wir sind

Prostitution bei YouTube - Mein Gefühl

Aber für mich fühlt es sich persönlich an, weil es meine Geschichte ist.

Die YouTube-KI ist inzwischen sehr gut darin geworden, diese Kommentare rauszufiltern. Vor ein paar Jahren konnte man noch Kommentare lesen wie „Leute, die solche Videos machen, gehörten euthanasiert!“.

In dieser Garstigkeit befinden sich meine Kommentare nicht.

Und trotzdem spüre ich eine Angst davor, so ganz ohne Schminke und ohne eine Rolle angreifbar zu sein.

Das ist eine Angst, die in vielen von uns sitzt.

YouTube-Statistiken

YouTube stellt einem Content Creator (so nennt man die Leute, die bei YouTube Videos veröffentlichen) Unmengen an statistischen Daten zur Verfügung. Und ich hasse diese Statistiken. Ich schaue sie mir nie an.

Weil ich mich dann fühle, als würde ich mich prostituieren. Für die meisten ist YouTube ein netter Zeitvertreib, der sie von ihrem eigenen Leben ablenkt. Bloß nicht zu viel fühlen. Also lässt man sich berieseln.

Die Aufrufzahlen, die man bei jedem Video sehen kann, sagen nichts darüber aus, wie lange das Video angeschaut wurde. Die meisten meiner Videos werden maximal ein paar Minuten angeschaut, nur die aller wenigstens Viewer halten 10 Minuten durch.

Und am beliebtesten sind die Videos, in denen ich über mich selbst rede. Als wäre mein Leben eine Soap Opera. Für mich ist es aber keine Soap Opera.

Das ist mein Leben.

Und ich erzähle meine Geschichte, weil ich Mut machen will. Nicht, weil ich die Bedürfnisse nach mentaler Ablenkung befriedigen möchte.

Ich möchte etwas bewirken. Etwas verändern.

Ich möchte zum Nachdenken anregen und dazu, das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Zu seiner eigenen Autorität zu werden.

Aber vielleicht ist das zu viel erwartet?

Und dann gibt es Likes und herzerwärmende Kommentare

Und weitaus häufiger als garstige Kommentare bekomme ich Kommentare von fremden Menschen, die ich mit meinen Videos berühren konnte.

Die sich verstanden fühlen. Die sich wiederfinden in meiner eigenen Geschichte. Und die vielleicht merken, dass sie nicht alleine mit ihren Gefühlen und Erlebnissen sind. Sondern dass sich nur niemand traut darüber zu reden.

Und für diese Menschen mache ich diese Videos.

Ich selbst möchte nicht gesehen werden. Aber ich möchte, dass jeder Einzelne sich gesehen fühlt. Auch ohne das eigene Gesicht in eine Kamera halten zu müssen und sich zu prostituieren.

Es gibt immer mehrere Seiten einer Medaille

Schauen wir der Realität ins Auge: Natürlich gibt es eine Unmenge an Gründen, warum meine Videos nicht angeschaut werden. Vielleicht ist es Ablenkung, was Leute zu YouTube treibt. Dann sind sie bei mir an der falschen Adresse.

Oder vielleicht bin ich ihnen einfach nicht sympathisch.

Vielleicht erzähle ich einfach nicht IHRE Geschichte?

Oder vielleicht sind sie einfach noch nicht so weit, sich diese Dinge anzuschauen.

Und dann muss ich mich daran erinnern, bei mir zu bleiben und das zu machen, was ich IN MIR fühle. DAS ist meine Wahrheit.

Ich möchte keinen Zielgruppen hinterherrennen und psychologische Manipulationen einsetzen, nur damit ich mich besser fühle und ich zeigen kann, wie viele Follower ich habe.

Ich möchte berühren

Aber genauso werde auch ich berührt, angenehm wie unangenehm.

Ich möchte Menschen emotional berühren

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